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June 22


Stellungnahme zur Umsetzung der Istanbul-Konvention in den Stadt-
und Landkreisen in Baden-Württemberg


Hintergrund


Der Landesverband Frauen* gegen Gewalt ist ein Zusammenschluss der spezialisierten Fachberatungsstellen bei sexualisierter und häuslicher Gewalt in Baden-Württemberg. Die unabhängigen, spezialisierten Fachberatungsstellen greifen landes- und bundesweit seit Jahrzehnten die Tabuthemen häusliche und sexualisierte Gewalt auf. Zu den Kernaufgaben zählen neben der Unterstützung der Betroffenen, der Fortbildung der Mitarbeiterinnen* und der Entwicklung von Qualitätsstandards, die Vernetzung und die politische Arbeit. Ein Erfolg dieser politischen Arbeit ist zum Beispiel die Reform des Sexualstrafrechts im Jahr 2016. Erst durch diese Reform wurde in Deutschland die Ratifizierung der Istanbul-Konvention [1] möglich. Auch unsere kontinuierliche Lobbyarbeit trägt dazu bei, dass inzwischen erfreulicherweise mehr Finanzierungsmittel für die Beratung und Begleitung gewaltbetroffener Frauen* zur Verfügung gestellt werden.
Wir begrüßen sehr, dass die Städte und Landkreise Baden-Württembergs und das Land Baden-Württemberg Anstrengungen unternehmen, die Istanbul-Konvention umzusetzen, Fachberatungsstellen zu fördern und damit die Versorgung der gewaltbetroffenen Frauen* und ihres Umfelds bedarfsgerechter zu gestalten.


Aus unserer Sicht ist jedoch elementar wichtig, beim Schließen der Versorgungslücken die folgenden Prämissen zu beachten, um die Qualität der Angebote zu sichern:


1. Staatlich geförderte Beratungsangebote müssen geschlechtsspezifisch spezialisierte Ausrichtung vorhalten


Gewalt gegen Frauen* ist „Ausdruck historisch gewachsener ungleicher Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern“, hat „strukturellen Charakter“ und ist einer der entscheidenden sozialen Mechanismen, „durch den Frauen in eine untergeordnete Position gegenüber Männern gezwungen werden“ (Istanbul-Konvention, Präambel). Sexualisierte und häusliche Gewalt sind deshalb in erster Linie als geschlechtsspezifische Formen von Gewalt zu betrachten [2] . Deshalb sollten „die staatlich geförderten Einrichtungen gemäß einem geschlechtsbewussten Ansatz“ arbeiten und in jedem Einzugsgebiet (auch) geschlechtsspezifische Angebote“ vorhalten. „Angebote mit einem feministischen Arbeitsansatz, der auch die Gleichstellung der Geschlechter fördert, sind besonders zu fördern.“ [3] (siehe auch Alternativbericht Istanbul-Konvention) Die in der Istanbul-Konvention geforderte geschlechtsspezifische spezialisierte Beratung für Frauen* muss sich deshalb im Angebot zeigen. Geschlechtsneutral ausgerichtete Angebote sind nicht geeignet, um geschlechtsspezifische Gewalt zu bekämpfen. Selbstverständlich sind auch Männer* von Gewalt betroffen und jede Stadt und jeder Landkreis sollte entsprechende Angebote vorhalten.


2. Geschlechtsspezifische Gewalt muss als Folge von struktureller Ungleichheit und nicht als individuelles Problem der gewaltbetroffenen Frau* betrachtet werden!


Traumatisierungen werden zunehmend als krankhafte Störungen und neurobiologische Symptome betrachtet. Gewaltbetroffene Frauen* erhalten schnell eine medizinische Diagnose wie z.B. „Posttraumatische Belastungsstörung“ und werden in der Folge als krank und behandlungsbedürftig betrachtet. Traumatisierungen und Gewalterfahrungen werden dadurch auf individuelle Einzelschicksale reduziert.

Eine individualisierte Betrachtungsweise geschlechtsspezifischer Gewalt entspricht jedoch nicht der Istanbul-Konvention. Da geschlechtsspezifische Gewalt Ausdruck von struktureller „Beherrschung und Diskriminierung der Frau durch den Mann“ ist, sollten gewaltbetroffene Frauen* (Istanbul-Konvention, Präambel) nicht grundsätzlich pathologisiert werden.
Geschlechtsspezifische Gewalt ist kein individuelles Einzelschicksal, keine Krankheit, keine Störung und somit auch nicht in erster Linie ein individuelles Problem von gewaltbetroffenen Frauen*. Geschlechtsspezifische Gewalt ist ein gesellschaftliches Problem. Die Individualisierung von geschlechtsspezifischer Gewalt und ihren Folgen verlagert das Problem ins Individuum und lässt die Ursachen außen vor. Angebote für gewaltbetroffene Frauen* müssen immer die gesellschaftlichen Ursachen der Gewalt in den Blick nehmen und öffentlich thematisieren. Auch in der  konkreten Traumaarbeit ermöglicht die gesellschaftskritische Einordnung und Kontextualisierung den ratsuchenden Frauen* Entlastung: die Gewalterfahrung ist nicht ihr* individuelles Problem
oder gar Verschulden.

3. Besonderes Augenmerk auf Träger von bereits bestehenden spezialisierten Fachberatungsstellen in der Region!


Oftmals gibt es in der Stadt eines unversorgten Landkreises oder in der Nachbarstadt/im Nachbarlandkreis einen Träger mit jahrelanger Erfahrung im Bereich geschlechtsspezifische Gewalt. Auch wurde oftmals der Landkreis von einer in der jeweiligen Kreisstadt angesiedelten  Beratungsstelle ohne eine öffentliche Finanzierung mitversorgt. Kleine feministische Träger bringen seit Jahrzehnten enorme Spendenmittel auf, damit gewaltbetroffene Frauen* in unversorgten Landkreisen dennoch Unterstützung finden. Im Arbeitsbereich Gewalt gegen Frauen* ist Vernetzung elementar wichtig. Die spezialisierten Fachberatungsstellen haben über Jahre hinweg verlässliche und wertvolle Kooperationskontakte aufgebaut zu anderen Einrichtungen und Institutionen in der Region, z.B. zu Krankenhäusern, Frauenhäusern, der Kinder- und Jugendhilfe, der Sozialpsychiatrie, zu Polizei und Justiz, Einrichtungen der Behindertenhilfe, Schwangerschaftskonfliktberatungs- oder Suchtberatungsstellen. Nur diese offenen und kurzen Wege ermöglichen es, gewaltbetroffene Frauen* auch im Akutfall schnell zu versorgen und individuell zu unterstützen. Bestehende Kooperationsbeziehungen und Netzwerke sind unerlässlich.

Wir fordern, dass bei der Vergabe von öffentlichen Geldern spezialisierte Fachberatungsstellen, die jahrzehntelang Unterstützung geleistet haben, auch aufgrund ihrer wertvollen Netzwerkexpertise erhalten und gestärkt werden. Bereits bei der Angebotsplanung sollte die jeweilige Stadt/der Landkreis das vorhandene Unterstützungssystem einbeziehen. Für diese Konzeptionierung und deren Umsetzung müssen selbstverständlich finanzielle Mittel bereitgestellt werden.


4. Qualität geht vor – professionelle Hilfe darf keine zuvorderst wirtschaftliche Entscheidung sein!


Es genügt nicht beliebige Angebote vorzuhalten, die die fachlichen Qualitätsstandards nicht erfüllen. Die Qualität der Angebote muss erstes Entscheidungskriterium sein. Öffentlich geförderte Beratungsstellen müssen fachspezifische Qualitätsstandards erfüllen. Die im LF*GG  organisierten Fachberatungsstellen erfüllen die Qualitätsstandards des bff [4]: dem Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe. Ebenso die Qualitätsstandards, die im „Landesaktionsplan gegen Gewalt an Frauen in Baden-Württemberg“ [5] für das ambulante Unterstützungssystem festgelegt wurden. Dies sehen wir als zwingend notwendige Voraussetzung für professionelle Arbeit im Bereich Gewalt gegen Frauen*. Die Expertise einer Fachberatungsstelle für gewaltbetroffene Frauen* umfasst unzählige Wissensgebiete:  verfahrensunabhängige Spurensicherung und Akutversorgung, traumasensible Beratung, Gefährdungsanalyse & interinstitutionelle Fallkonferenzen, Expertise zu digitaler Gewalt, Beratung von gewaltbetroffenen Frauen* mit Behinderungen, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, Ablauf von Anzeige und Strafverfahren, Schutzkonzepte in Einrichtungen und Vereinen etc. Diese Arbeit kann nur von erfahrenen und entsprechend ausgebildeten Fachfrauen* geleistet werden. Denn die Sicherheit und die psychische Stabilität der Betroffenen hängt unmittelbar
davon ab: Eine unzureichende Gefährdungsanalyse und fehlende Sicherheitsplanung im Netzwerk kann z.B. wiederholte schwere Gewalt bis hin zu Femiziden zur Folge haben.


5. Frauen* müssen in allen Kommunen und Kreisen auch die Möglichkeit haben, bei einem nicht-konfessionellen Träger Hilfe und Unterstützung zu finden!


Aus der Erfahrung der Fachberatung ist es immer wieder für gewaltbetroffene Frauen* eine große Hürde, Beratung in einer konfessionellen Beratungsstelle zu suchen. Frauen* aus anderen Religionsgemeinschaften, konfessionslose Frauen* und insbesondere Frauen*, die in kirchlichen Strukturen Gewalt erleben mussten, tun sich oft besonders schwer, Beratung von kirchlichen Trägern in Anspruch zu nehmen. Zumal die Kirchen noch sehr mit der stockenden Aufarbeitung eigener Missbrauchsvorfälle beschäftigt sind. Gewaltbetroffenen Frauen*, die ohnehin mit Angst und Scham zu kämpfen haben, fällt es oftmals leichter, eine unabhängige Beratungsstelle aufzusuchen. Einige gewaltbetroffene Frauen* benötigen die Sicherheit, dass sie in den Beratungsstellen nicht auf Männer* treffen und können sich in Fachberatungsstellen, deren Träger  ausschließlich in Frauen*händen ist, besser mit ihrer Geschichte anvertrauen.


6. Regionale, unabhängige Vereine bilden das Herzstück des professionellen Unterstützungssystems!


Viele der heute professionell tätigen Einrichtungen wurden in den 1970er und 1980er Jahren dezentral von Aktivistinnen* der zweiten Frauen*bewegung und/oder Betroffenen gegründet. Die Grundlage unserer Arbeit bildet nach wie vor die Unterstützung von gewaltbetroffenen Frauen* einerseits, aber auch das Ansetzen an gesellschaftlicher Veränderung mit dem Ziel, dass geschlechtsspezifische Gewalt irgendwann der Vergangenheit angehört.
Diese kleinen, örtlichen Vereine haben dadurch jahrzehntelang gewachsene Expertise und Erfahrung mit gewaltbetroffenen Frauen*. Durch ihre Trägerstruktur haben sie jedoch weniger Spielräume als die großen Wohlfahrtsträger, auf eine Ausweitung des Angebots schnell zu reagieren. Um der Istanbul-Konvention gerecht zu werden, sollten feministische Vereine und Angebote deshalb besonders unterstützt und gefördert werden

Ansprechpartnerinnen:

Liane Wacker, Frauen helfen Frauen e.V. Stuttgart

Römer STraße 30, 70180 Stuttgart

Tel 0711 6494550

Tabea Konrad, Fetz - Frauenberatungs- und Therapiezentrum Stuttgart e.V.

Rotebühlstraße 63 in 70178 Stuttgart

Tel 0711 2859002

Fußnoten:

[1] Istanbul-Konvention: Gesetz zu dem Übereinkommen des Europarats vom 11. Mai 2011 zur „Verhütung und
Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“

[2] Vgl. auch die Statistik des Bundeskriminalamtes, welche das Hellfeld beleuchtet: Hier wird sehr deutlich, dass
z.B. v.a. Frauen* und Mädchen von schwerer sexualisierter Gewalt betroffen sind.

[3] Vgl. Alternativbericht Istanbul – Konvention.
https://www.bmfsfj.de/resource/blob/183606/fb14953b4d67ab87db0a0dbe57acdd5c/buendnis-istanbul-
konvention-alternativbericht-data.pdf

[4] https://www.frauen-gegen-gewalt.de/de/ueber-uns/bff-qualitaetssicherung/qualitaetsentwicklung-und-
qualitaetssicherung.html

[5] https://sozialministerium.baden-wuerttemberg.de/de/soziales/gegen-gewalt-an-frauen/landesaktionsplan/

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